Junior

Im Fernsehen lief Santa Clause. Der Weihnachtsmann rutschte gerade vom Dach und fiel Tim Allen vor die Füße.

    Rumms! Schurr!

    Hanna fuhr zusammen und schaute hinauf zur Zimmerdecke. Was war das denn? Seit Monaten schon stand die Wohnung über ihr leer und sie hatte die Stille genossen. Zog da etwa jemand ein? Jetzt? Am dritten Advent? Um neun Uhr abends?

    Sie drückte die Pause-Taste auf der Fernbedienung, ging zur Wohnungstür und spähte durch den Spion. Gerade schleppten merkwürdig gekleidete Leute ein grünes Sofa die Treppe hinauf, gefolgt von weiteren mit einem roten Sessel. Sie schienen überhaupt keine Mühe mit den sperrigen Möbeln zu haben, obwohl sie Hanna ziemlich klein und zierlich vorkamen. Und wieso trugen sie Strumpf-hosen und Zipfelmützen? Elfenkleidung fand man doch eher selten bei den Um-zugsfirmen, selbst um diese Jahreszeit.

    Rumms! Schurr!

    Nee, also wirklich! Es war Sonntagabend, verdammt noch mal! Hanna pflückte den Schlüssel vom Haken, riss die Tür auf und folgte den Möbelträgern die Treppe hinauf.

    Oben angekommen stand die Wohnung, die genau über ihrer lag, tatsächlich offen, doch niemand war zu sehen. Dafür stapelten sich drinnen im Flur jede Menge Kartons, ebenso im Wohnzimmer, soweit Hanna erkennen konnte.

    Schurr!

    Doch gerade, als sie an die offene Tür hämmern wollte, wurde etwas gezi-schelt und im Wohnzimmer entstand eine gespannte Stille. Dann kam ein junger Mann heraus – und Hannas Wut verrauchte auf der Stelle. Auf einmal wurde ihr das Atmen schwer.

    Auch er blieb kurz stehen, als er sie sah, seine Augen weiteten sich und seine Kinnlade sank nach unten, doch im Gegensatz zu ihr hatte er sich schnell wieder im Griff. Er lächelte, kam noch zwei Schritte näher, wischte sich die Hände an den Jeans ab und fuhr sich durch die Tolle über der Stirn. „Guten Tag“, sagte er. „Sind Sie hier, weil wir zu laut waren?“

    Hanna nickte stumm, dann holte sie tief Luft. „Ziehen Sie erst jetzt ein?“, fragte sie lahm. „Es ist doch Sonntagabend und schon spät.“

    „Tut mir leid, es ging nicht eher.“ Er streckte die Hand aus. „Darf ich mich vorstellen? Nick Sander. Ich bin Ihr neuer Nachbar.“

    „Ich heiße Hartwig und wohne genau unter Ihnen“, brachte sie als Antwort heraus.

    „Also waren wir tatsächlich zu laut.“ Sander ließ die Hand sinken. „Das tut mir leid. Ich habe denen gesagt, dass sie vorsichtig sein sollen um diese Zeit, aber in der Eile …“ Er zuckte mit den Schultern.

    Sie versuchte, an ihm vorbeizuspähen, doch, Zufall oder nicht, er tat einen Schritt seitwärts und versperrte ihr damit die Sicht. „Ich mache es wieder gut, Frau Hartwig, versprochen“, sagte er. „Nur jetzt muss ich Sie noch um ein wenig Geduld bitten. Aber in spätestens einer Stunde sind wir fertig.“

    Sie sah ihn an und fragte sich, wie jemand so schauen konnte. Sein himmel-blauer Blick ließ irgendwie ihr Herz stolpern.

    Sander streckte wieder die Hand aus. „Ich melde mich in den nächsten Tagen, abgemacht? Jetzt weiß ich ja, wo Sie wohnen. Und dann lade ich Sie zu einem Kaffee ein, in Ordnung? Als Entschädigung sozusagen.“

    „Ich werde darauf warten.“ Diesmal war Hanna in der Lage, seine Hand zu nehmen. Die Berührung kribbelte ihr den ganzen Arm hinauf.

    „Sehr gut.“ Ein weiterer Händedruck, dass es ihr heiß den Hals emporstieg, dann trat er einen Schritt zurück, winkte noch einmal und schloss die Woh-nungstür.

    Hanna starrte auf das weiß gestrichene Holz. Nick Sander! Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass jemand sie bei der allerersten Begegnung so sehr aus dem Konzept brachte. Ihr Puls raste noch immer. Irgendwie fühlte sie sich von dem Mann fortgeschoben, aber irgendwie auch wieder nicht. Und sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Erst nach einer Weile gelang es ihr, sich umzu-drehen und zurück in ihre Wohnung zu gehen. Der Film im Fernsehen war längst vergessen und das gelegentliche Schurren von oben bekam jetzt etwas sehr Melodisches.

 

In den nächsten Tagen lauschte Hanna immer wieder nach oben, aber bis auf ein paar leise Schritte ab und zu gab es kaum Geräusche, nur einmal summte die Waschmaschine. Wann kam er denn nun? Sollte sie vielleicht zur Begrüßung noch mal mit Brot und Salz nach oben gehen? Oder wäre das zu aufdringlich?

Andererseits verließ sie morgens jetzt ungern das Haus. Vielleicht klingelte er ja, während sie gerade im Büro saß. Und abends schminkte sie sich erst ab, wenn von oben nichts mehr zu hören war. Nur noch fünfmal schlafen bis Weih-nachten.

    Zwei Tage später war sie entschlossen, es zu wagen. Brot, ein Salzfässchen und ein hübsches Holzbrett standen für das Alibi schon bereit.

    Plötzlich klingelte es. Unangekündigt!

    Sie rannte zur Tür und spähte durch den Spion. Tatsächlich, da draußen stand er! Endlich!

    Rasch fuhr sie sich am Garderobenspiegel durch sie Haare und wischte ein wenig Wimperntusche unter dem linken Auge fort. Dann holte sie tief Luft und öffnete.

    „Hallo, Frau Hartwig, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Er streckte ihr einem Topf mit grüner Manschette, roter Schleife und einem Weihnachts-stern entgegen.

    Diesmal war sie auf ihn vorbereitet. Mit einem Lächeln nahm sie die Pflanze entgegen. „Danke schön, das ist aber nett“, sagte sie und trat einen Schritt beiseite. „Kommen Sie doch herein, Herr Sander.“

    Er zwinkerte. „Nennen Sie mich bitte Nick, ich höre auch auf den Namen Junior. Und wollten wir nicht etwas trinken gehen?“

    Das hätte er wohl gern! Schon seit Tagen malte sie sich diese Begegnung aus und wollte sie auf keinen Fall in irgendeinem Lokal verplempern. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Mein Tag war ziemlich lang. Aber ich habe einen guten Rotwein im Haus, wenn Sie möchten.“ Sie hatte zum Probieren sogar eine zwei-te Flasche gekauft, obwohl man dafür ziemlich viel Geld hinblättern musste. Doch nichts wäre peinlicher gewesen, als wenn sich der Wein ausgerechnet jetzt als sauer herausgestellt hätte. „Mögen Sie Rotwein?“ Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein, näher zu treten.

    Er nickte ein wenig zögernd und folgte ihr ins Wohnzimmer. Dort holte sie zwei Gläser aus dem Schrank und wies auf das Sofa. „Bitte nehmen Sie Platz, bin gleich wieder da“, sagte sie und ging in die Küche, wo der Wein auf sie wartete. Nick war wirklich hier. Fast hätte sie vor sich hingesummt, als sie die Flasche öffnete.

    Kurz darauf schenkte sie im Wohnzimmer ein. „Zum Wohl“, sagte sie, setzte sich in ihren Sessel und prostete ihm zu.

    Er hob ebenfalls sein Glas. „Danke für die Einladung. Mit sowas hatte ich gar nicht gerechnet.“

    „Keine Ursache.“ Sie nahm einen Schluck. „Ich habe übrigens neulich Ihre Möbelträger gesehen. Was war denn das für eine Firma? Die hatten sich sogar als Elfen verkleidet, was ich irgendwie nett fand.“

    Er ließ sein Glas sinken. „Sie konnten sie sehen?“

    „Klar doch, durch den Spion. Sie trugen ein Sofa und einen Sessel hinauf.“

    Er runzelte die Stirn. „Durch welchen Spion?“

    „Durch den in der Wohnungstür. Sie haben doch auch einen.“

    Er sah sie überrascht an. „Dieses Guckloch mit der Glaslinse darin? Aber da-ran ist doch nichts Besonderes.“

    „Wie meinen Sie das?“ Sie erwiderte seinen Blick. „Stimmt etwas nicht?“

    Er starrte sie an. „Und Sie haben durch dieses Ding tatsächlich die …?“ Er räusperte sich. „Sie haben meine Möbelträger gesehen?“

    Hanna nickte.

    „Sie hat sie gesehen“, murmelte er in sein Glas und nahm einen großen Schluck. Dann schwieg er und warf ihr nur ein oder zwei verstohlene Blicke zu. Und gerade, als sie etwas sagen wollte, erklärte er seltsam entschlossen: „Das waren alles Leute aus unserem Betrieb.“

    „Sie besitzen eine eigene Firma?“, fragte sie erstaunt.

    Er nahm noch einen Schluck und holte tief Luft. „Genau. Mein Vater ist Ge-schäftsführer, mein Bruder Klaus Direktor der Produktion und ich bin für die Distribution zuständig. Früher hat Vater alles allein gemacht, doch er wird lang-sam alt und wir nehmen ihm immer mehr von diesen Dingen ab. Allerdings weiß ich noch nicht, ob ich das für immer machen möchte. Schließlich ist Klaus auch noch da und der liebt diese Arbeit sehr.“

    Hanna machte große Augen. „Ihr Bruder ist Direktor der Produktion? Wie viele Mitarbeiter haben Sie denn?“

    Nick drehte das Glas zwischen seinen Fingern. „Lassen Sie mich überlegen. Ich glaube, bei der letzten Zählung waren es sechstausendsiebenhundertachtund-dreißig. Aber das ist jetzt schon ein paar Jahre her. Wahrscheinlich stimmt die Zahl nicht mehr so ganz.“

    „Sechstausend?“ Hanna blieb die Luft weg.

    „Plus siebenhundertachtunddreißig.“

    Sie stellte das Glas ab. „Und wie heißt Ihre Firma?“

    „Sie hat keinen Namen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Hat nie einen ge-braucht.“

    „Echt jetzt? Obwohl sie so groß ist? Was stellen Sie denn her?“

    „Spielzeug.“ Er beobachtete sie aufmerksam.

    „Sind Sie etwa reich?“ Oh Gott, Hanna, sowas fragt man nicht!

    Er grinste. „Wie man’s nimmt. Wir Sanders würden uns durchaus so bezeich-nen.“

    „Aber dann müssten Sie doch irgendwo am Stadtrand in einer Villa wohnen, nicht in solch einem schäbigen Mietshaus“, platzte es wieder aus ihr heraus – und am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen.

    Inzwischen glich er immer mehr einem Breitmaulfrosch. „Ich bin hierherge-zogen, um mal eine Weile allein zurechtzukommen. Ist ein Test, der vor allem Mutter beruhigen soll. Außerdem hat die Wohnung oben ein prakti-sches Flachdach.“

    Sie starrte ihn unverwandt an und in ihrem Kopf begannen sich Zahnräder zu drehen. Sechstausendsiebenhundert! Das Wort hakte sich in ihr fest, ebenso wie Flachdach, namenlose Firma, Spielzeug, Elfenkostüme. Und dazu raubte ihr der Typ immer noch den Atem. Schließlich fragte sie: „Wieso hätte ich die Möbel-träger nicht sehen sollen?“

    Er stellte ebenfalls sein Glas ab. „Ich muss schon sagen, Sie wollen genau das Richtige wissen.“ Dann stand er auf und reichte ihr die Hand. „Kommen Sie“, er zwinkerte, „oder wollen wir uns duzen? Ich glaube, bei uns ist höfliche Distanz nicht mehr notwendig.“

    Sie nickte wie betäubt. „Ich bin Hanna“, sagte sie automatisch.

    Er nahm ihre Hand. „Ich weiß.“ Dann zog er sie mit sich, durch die Woh-nungstür, hinaus ins Treppenhaus – sie konnte gerade noch nach ihrem Schlüssel greifen – und hinauf in den vierten Stock zu seinem Appartement. Dort ange-kommen ließ er sie mitten im Wohnzimmer stehen. „Warte bitte einen Moment“, sagte er und verschwand durch eine weitere Tür.

    Hanna sah sich um – und wurde fast erschlagen von all dem Rot und Grün. Sofa, Sessel, Stühle, Kissen, Vorhänge, alles in den beidem Farben. Dazu kamen weiße Regale voller bunter Gegenstände und eine Weihnachtsdekoration, neben der sich ihr eigener Adventskranz und der Leuchtstern im Fenster ausnahmen wie ein mickriger Versuch. Überwältigt ließ sie sich auf das Sofa sinken. Sechs-tausendsiebenhundert. Elfenkostüme. Spielzeug. War das möglich? Oder litt sie unter Halluzinationen? Was, wenn er tatsächlich …

    Nick kam zurück, gehüllt in einen warmen, knielangen Mantel mit Lammfell-kragen und mit einer roten Pudelmütze auf dem Kopf. Dazu hatte er sich schwarze Stiefel mit goldenen Schnallen angezogen. Und über dem Arm trug er einen weiteren Mantel, den er ihr jetzt reichte. „Nimm den“, sagte er. „Draußen ist es ziemlich kalt.“ Dann half er ihr beim Zuknöpfen und zog die Kapuze auf ihre Haare. „Bereit?“

    Sie sah ihn an. „Wofür?“

    Er grinste und schnippte mit den Fingern hoch zur Zimmerdecke. Wie aus dem Nichts erschien eine Treppe, die zu einer Dachluke führte. „Du kannst sie sehen, oder?“, fragte er, ohne die Antwort abzuwarten. Stattdessen nahm er wieder ihre Hand und zog sie die Stufen hinauf.

    Hanna war schon lange nicht mehr in der Lage, sich zu wundern, sondern stolperte nur noch hinter ihm her. Und oben auf dem Flachdach bewahrheitete sich ihr Verdacht dann endgültig. In einem offenen Unterstand rupften neun Rentiere an ihren Heuraufen und daneben stand ein riesiger Schlitten in Gold, Grün und Rot. Firma ohne Namen. Spielzeug. Sechstausendsiebenhundert Elfen.

    „Lust auf eine Spritztour?“, fragte Nick, doch Hanna konnte gar nichts mehr sagen. Also verfrachtete er sie auf die Kutschbank und zog noch einmal ihren Mantel zurecht. Dann holte er eine Decke heraus und legte sie ihr über die Knie. „Geht gleich los“, sagte er und ging anspannen.

    Diesmal waren es nur Dancer, Prancer und Rudolph. „Wir sind heute noch leer, da brauche ich die anderen nicht“, meinte er, als er sich neben sie setzte und den Arm um sie legte. Dann schlug er mit den Zügeln und sie hoben ab.

    „Wie heißt du noch mal?“, fragte sie, als sie endlich wieder sprechen konnte.

    Er grinste. „Nick Sander, eigentlich Niklas, aber nur, weil ich der Zweitgebo-rene bin. Der Älteste bei uns heißt immer Klaus, schon seit Generationen.“

    Niklas Sander. Klaus Sander. Santa Clause. „Und deine Familie wohnt wo?“, fragte Hanna.

    „Das weißt du doch längst.“

    Sie sah hinunter auf die Lichter der Stadt, über der sie eine weite Schleife zo-gen. „Kneif mich mal.“

    Als Antwort legte er ihren Kopf gegen seine Schulter. „Weißt du eigentlich, wie lange ich schon nach jemandem wie dir suche?“, fragte er.

    „Nach jemandem wie mir?“

    „Genau. Du kannst all diese Dinge sehen, die Elfen, die Rentiere, den Schlitten und so. Das ist sehr, sehr selten, weißt du das? Und dann neulich, als du so wütend vor meiner Tür gestanden hast …“ Er zuckte mit den Achseln. „Mutter hat Klaus und mir prophezeit, dass das eines Tages passieren wird. Bei ihr und Vater war es ähnlich.“

     Hanna kuschelte sich an seinen Lammfellkragen. Er also auch? Oh Himmel, was kam da auf sie zu? Damals, während der Sache mit dem Vikar, hatte sie sich schon mal eine Zukunft als Pastorenfrau ausgemalt, eine beunruhigende Vision, doch verglichen mit dem hier wäre so etwas das Normalste auf der Welt gewe-sen. Andererseits kam ihr diesmal alles so verdammt richtig vor, die Sterne am Nachthimmel, das Klingeln der Schlittenglocken, die Stadt dort unten, sein Ge-ruch. Egal, dass sie ihn kaum kannte, egal, dass sie ihn heute erst zum zwei-ten Mal sah. Dies hier hatte sie schon immer gewollt, und zwar genau mit die-sem Mann.

    Er schob sie ein Stück von sich. „Du sagst ja gar nichts. Wird dir das alles zu viel?“, fragte er besorgt.

    Sie schüttelte den Kopf. „Erstaunlicherweise nicht. Und wenn du heute nicht gekommen wärst, hätte wahrscheinlich ich bei dir geklingelt. Als Entschuldi-gung habe ich bereits Brot und Salz gekauft.“

    „Das hättest du? Echt jetzt?“ Er schaute ihr tief in die Augen. „Und du hast kein  Problem mit meiner Herkunft?“

    Sie richtete sich auf. „Warum denn?“

    „Wahnsinn!“ Er schlug mit den Zügeln. „Lauft, Prancer, Dancer, Rudolph. Heute ist ein Wunder geschehen.“

    Kurz darauf landete der Schlitten wieder sanft auf dem Flachdach und dies-mal kümmerten sie sich gemeinsam um die Rentiere. Als sie dann zurück in seiner Wohnung waren, nahm er sie bei den Schultern und fragte: „Hast du vielleicht Lust, heute Nacht bei mir zu schlafen?“

    Und Hanna nickte.

 

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© Autorin Cathrin Block