Der Rehbockmantel

von Cathrin Block

Es war einmal ein junger Jäger, dem es oblag, Hirsche, Hasen und Rebhühner für die Tafel des Königs zu erlegen. Kein schöneres Leben konnte er sich vorstellen, als manchen Tag und manche Nacht im Wald zu verbringen, den Tieren zuzuhören und das sternenübersäte Firmament zu betrachten.

Eines Nachts im Winter nun wanderte er wieder durch den Wald und entdeckte auf einer Lichtung einen Rehbock, dessen Fell im Mondlicht glänzte. Die beiden Geweihspieße auf seiner Stirn schimmerten, als seien sie aus Silber, und seine Flanken waren glatt und wohlgenährt. „Das ist aber mal ein ordentlicher Braten“, dachte der Jäger. „Und das Geweih wird sich hübsch über dem Kamin in der großen Halle ausmachen.“ Das dichte Fell jedoch wollte er sich von seinem Herrn erbitten, um daraus einen Mantel für kalte Winternächte zu nähen.

Vorsichtig pirschte er durch das Unterholz näher heran. Und da der Wind günstig stand, bemerkte der Bock nichts davon, sondern grub weiter mit gesenktem Kopf im Schnee nach dem Gras auf der Lichtung. Auch schien es so, als würde der Mond besonders für ihn leuchten.

Der Jäger hob langsam den Bogen, spannte die Sehne und zielte, als plötzlich, wie aus großer Ferne, eine silberne Stimme erklang. „Gib Obacht, Reh!“, rief sie. „Gib Obacht!“

Diesmal hob der Rehbock den Kopf und spannte die Muskeln, doch es war zu spät. Der Pfeil des Jägers flog bereits durch die Luft und bohrte sich gleich in das Herz des Tieres. Mitten im Sprung stürzte es zu Boden und verschied. Und das silberne Licht erlosch, als zöge eine Wolke über den Mond.

Den Jäger aber kümmerte das nicht. Zufrieden über den guten Fang ging er zu seiner Beute und brach sie auf. Dann schulterte er den Rehbock und trug ihn heim ins Schloss, wo sich wie erwartet der Koch über das saftige Stück Fleisch freute. Ebenso fand das Gehörn einen Ehrenplatz über dem Kamin in der großen Halle. Und das Fell des Rehs durfte der Jäger behalten, um sich einen Mantel daraus zu nähen.

Bald jedoch kamen Frühjahr und Sommer, eine Zeit, in der der Jäger nicht jagen durfte. Stattdessen wanderte er tagsüber durch den Wald, um nachzusehen, wo neues Wildbret für die Tafel des Königs heranwuchs, um dem Hämmern der Spechte zu lauschen und den Zug der Wolken am Firmament zu betrachten. Doch bald wurde es wieder Herbst, die Blätter fielen von den Bäumen, und danach kam der Winter mit Eis und Schnee. Der Jäger konnte, gewärmt von seinem neuen Mantel, endlich wieder auf die Pirsch gehen.

Eines Nachts nun kam er mit seinem Bogen zurück zu der Stelle, wo er vor einem Jahr den Bock erlegt hatte. Doch diesmal konnte er dort kein Wild entdecken, weshalb er aus dem Unterholz trat, um die Schneefläche auf der Lichtung zu überqueren. Und es erstaunte ihn nicht schlecht, als er erneut die silberne Stimme hörte, dieselbe Stimme, die damals den Rehbock gewarnt hatte. Über dem guten Fang war sie bei ihm in Vergessenheit geraten, aber jetzt kehrte die Erinnerung des Jägers zurück. Wieder erklang die Stimme wie aus weiter Ferne. „Da ist er, Mond! Der da hat meinen Rehbock getötet!“, rief sie. „Und welch ein Frevel, der Unhold trägt sogar die Haut meines Liebsten.“

Der Jäger sah sich um, wer da gesprochen hatte, doch er konnte niemanden entdecken.

„Hier bin ich, du Mordgeselle!“, rief die Stimme, und ihr silberner Klang verwandelte sich, sodass sie klirrte wie Glas. „Hier oben bin ich. Hebe deine Augen, damit ich mich rächen und an deinem Unglück laben kann.“

Und als sich der Jäger erinnerte, wie die Stimme damals „Gib Obacht!“ gerufen hatte, fühlte er plötzlich große Schuld. Er merkte, dass er der Stimme wohl den Liebsten genommen hatte, eben jenen erlegten Rehbock, dessen Haut er jetzt als Mantel trug. Und er ahnte, dass ihm dafür eine schreckliche Strafe zuteilwerden sollte.

Daher blieb er mit gesenktem Kopf auf der Lichtung stehen, denn dem Befehl zu folgen und die Augen zu heben, wagte er nicht. „Höre, wer immer du auch bist“, rief er stattdessen, „ich entnehme deiner Rede, dass der Rehbock, den ich damals erlegte, dein Liebster gewesen ist. Zu jener Zeit wusste ich nichts davon, mein Handwerk ist es, die Tafel des Königs mit Wildbret zu füllen. Ich tat also nur meine Pflicht, doch heute bitte ich dich dafür aus tiefstem Herzen um Vergebung. Hätte ich damals erkannt, wie viel dir dieser Rehbock bedeutet, hätte ich meinen Pfeil niemals abgeschickt. Bitte töte mich nicht, sondern sage mir, wie ich diese Schuld begleichen kann.“

„Sieh auf zu mir und ich werde dich blenden, damit du nie wieder Tod und Verderben bringst“, rief die Stimme.

„Aber dann muss ich sterben“, erwiderte der Jäger. „Jagen ist das Einzige, das ich gelernt habe. Und wenn ich nicht mehr in den Wald gehen kann, verdiene ich nicht länger mein Brot und muss elendiglich verhungern.“

„Tod gegen Tod, eine gerechte Strafe“, sagte die Stimme.

Verzweifelt flehte der Jäger: „Wie kann ich dich nur besänftigen? Wie soll ich um Verzeihung bitten?“ Dann sah er sich um und erblickte am Rande der Lichtung einen Rosenstrauch, der auch jetzt, mitten im Winter, eine letzte Blüte trug. Er pflückte sie und hielt sie über sein Haupt. „Hier, diese außergewöhnliche Blume bittet für mich um Vergebung“, sagte er.

„Was soll ich mit einer Rose?“, fragte das silberhelle Klirren.

Da plötzlich erklang eine zweite Stimme, ein wenig tiefer und ein wenig goldener. „Jäger, ich bin der Mond“, sagte sie. „Ich beschien damals das Reh, das du erlegtest. Auch ich habe durch deine Schuld einen Freund verloren, doch ich verzeihe dir. Diese Rose blüht zu deinem Nutzen, weshalb ich erkenne, dass du nicht anders handeln konntest. Aber bedenke wohl, für dich ist es vorbei mit dem Waidwerk, deinen Broterwerb hast du für alle Zeit verloren. Wir kennen dich nun und werden nie wieder gestatten, dass du das Wild in den Wäldern tötest. Besänftige also den Stern, indem du deine Augen hebst, und ich gebe dir mein Wort, dass du nicht geblendet wirst. Du trägst den Mantel des Sternliebsten und auch die Rose wirbt für Gnade. Doch diese gilt nur, bis sie verblüht ist. Solltest du also nicht Folge leisten, wirst du künftig jeden Blick hinauf zum Firmament meiden müssen, damit dich nicht ein Blitzstrahl trifft und dir das Augenlicht nimmt.“

Der junge Jägersmann hob erneut den wunderbaren Rosenzweig und flehte: „O Mond, bittet diese Blume denn vergebens um Gnade? Erweicht das Wunder, dass sie mitten im Winter blüht, nicht euer Herz? Bitte habt Mitleid, nehmt dieses Geschenk und mildert meine Strafe.“

„Hattest du etwa Mitleid mit meinem Liebsten?“, rief die klirrende Stimme erbost. Und die sanftere des Mondes fügte hinzu: „Du musst lernen, was es bedeutet, ständig auf der Hut vor euch Jägern zu sein. Wie kannst du das Schicksal der Wildtiere verstehen, wenn du es nicht am eigenen Leibe erfährst? Hebe die Augen, damit du es erkennst.“

Da merkte der Jäger, dass ihm wohl nichts anderes übrig blieb. Noch einmal bedachte er das Für und Wider, aber er fand keinen Ausweg. Mit dem Jagen in Feld und Flur war es vorbei, nur noch Ratten und Mäuse in den Kellergewölben durfte er künftig erlegen. Und auch das Firmament konnte er nie wieder betrachten, ohne fürchten zu müssen, dass ihn doch noch seine Strafe ereilte. Die Freuden seines Lebens waren dahin, den Rest seiner Tage musste er im Inneren des Schlosses zubringen. Und nur die Worte des Mondes versprachen Rettung, deshalb wollte er ihnen vertrauen und hob voller Angst den Blick gen Himmel.

Die Mondsichel stand hell und klar am wolkenlosen Firmament und neben ihr leuchtete zornig der Abendstern. „Das ist dafür, dass du mir den Liebsten genommen hast“, sagte er, kaum dass sein Licht die Augen des Jägers traf. Dann sandte er einen gleißenden Blitzstrahl aus, der zu anderen Zeiten einen Widersacher für immer geblendet hätte. Doch diesmal umhüllte ihn der Mond mit sanfterem Licht und so blieben die Augen des Jägers klar.

Dann aber spürte dieser verwundert, wie sich der Mantel aus Rehbockfell fest um ihn schloss. Bogen und Köcher fielen zu Boden, der junge Jägersmann sank in die Knie und fiel vornüber auf seine Hände. Seine Gliedmaßen streckten sich, Finger und Zehen formten sich zu Hufen und zwei Geweihstangen sprossen ihm aus der Stirn. So rasch, wie es ihm mit dem ungewohnten Körper gelang, richtete er sich auf.

„Mond“, schrillte der Stern, „was hast du getan? Wie soll ich mich jetzt an meiner Rache laben?“

„Sei still“, antwortete der Mond. „Siehst du es denn nicht? Er gleicht jetzt deinem Liebsten und kann lernen, wie es Wildtieren im Angesicht ihrer Häscher ergeht. Das muss dir Rache genug sein.“

Der Jäger aber betrachtete ungläubig seine Hufe, die zarten Fesseln, das glänzend-braune Fell. Und plötzlich ergriff ihn die Furcht vor dem, was im Dunkel der Bäume ringsum auf ihn lauerte. Er hob die Nase, um den Wind zu prüfen, dann spannte er die Muskeln und verbarg sich rasch im Unterholz. Denn er wusste genau, bald schon würden andere Jäger kommen, um einem fetten Braten für die Tafel des Königs zu erlegen.

 

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