Es war einmal ein junger Jäger, der ging des Nachts in den Wald, um dort Rehe, Hasen und Rebhühner für die Tafel des Königs zu jagen. Eines Nachts nun sah er auf einer Lichtung einen prächtigen Rehbock. Das Fell glänzte im Mondlicht, die beiden Geweihspieße schimmerten, als seien sie aus Silber, und die Flanken des Tieres waren glatt und wohlgenährt. „Das ist mal ein ordentlicher Braten", dachte der Jäger. „Und das Geweih würde sich hübsch über dem Kamin in der großen Halle machen." Aus dem Fell jedoch wollte der Jäger für sich selbst einen Mantel nähen.
Vorsichtig pirschte er durch das Unterholz an die Lichtung heran. Langsam hob er den Bogen und spannte die Sehne. Der Bock merkte nichts. Ruhig äste er weiter und es war, als würde das Mondlicht ganz besonders ihn bescheinen. Noch zwei Schritte pirschte der Jäger heran, als er plötzlich eine Stimme hörte, wie aus großer Ferne und mit einem silbernen Klang: „Pass auf, Reh!"
Der Rehbock hob den Kopf und spannte die Muskeln. Doch es war zu spät. Der Pfeil des Jägers flog bereits durch die Luft und bohrte sich in das Herz des Tieres. Es stürzte mitten im Sprung zu Boden und verschied.
Es war, als würde eine Wolke über den Mond ziehen, denn das silberne Licht verblasste. Der Jäger aber kümmerte sich nicht darum, er brach das Reh auf, dann schulterte er seine Beute und trug sie heim ins Schloss. Wie er vermutet hatte, war der Koch erfreut über das saftige Stück Fleisch und das Gehörn fang seinen Ehrenplatz in der großen Halle über dem Kamin. Das Fell des Bocks durfte der Jäger behalten und er nähte sich einen Mantel daraus.
Frühjahr und Sommer vergingen, während denen der Jäger nicht jagen durfte. Stattdessen ging er tagsüber in den Wald, um nachzusehen, wo neues Wildbret für die Tafel des Königs heranwuchs. Doch endlich, eines Nachts im Herbst, pirschte er wieder mit seinem Bogen bei der Lichtung, auf der er den Bock erlegt hatte. Diesmal war kein Wild dort zu erblicken. So trat er aus dem Unterholz, um die Lichtung zu überqueren, als er wieder die Stimme hörte, die er längst vergessen hatte, weit entfernt und mit silbernem Klang. „Da ist er, Mond!", rief die Stimme. „Der da hat meinen Liebsten getötet. Er trägt sogar seine Haut."
Der Jäger sah sich um, wer da gesprochen hatte, aber er konnte niemanden entdecken.
„Hier bin ich, du Frevler!" Der silberne Klang verwandelte sich in sprödes Glas. „Hier oben. Du brauchst nur deine Augen zu heben, dann werde ich mich rächen."
Dem Jäger fiel wieder ein, wie er den Rehbock erlegt hatte. Und hatte die Stimme nicht gesagt, dass er die Haut ihres Liebsten trug? Das war der Mantel aus dem Fell des Rehs. Der Jäger begann, große Schuld zu fühlen, weil er jemandem, wenn auch unwissentlich, das Liebste genommen hatte. Trotzdem hob er nicht die Augen, denn er ahnte, dass es ihm schlecht bekommen würde. „Höre, wer immer du bist", rief er, „ich entnehme deiner Rede, dass dein Liebster der Rehbock war, den ich vor einiger Zeit hier erlegte. Es tut mir Leid. Ich tat nur meine Arbeit, denn es ist meine Pflicht, die Tafel des Königs mit Wildbret zu füllen. Hätte ich gewusst, dass ich dir Kummer bereite, hätte ich nie meinen Pfeil abgeschickt. Sage mir, wie ich meine Schuld wieder gut machen kann."
„Sieh auf zu mir und ich werde dich blenden, damit du nie wieder etwas töten kannst", rief die Stimme.
„Aber dann werden ich sterben", erwiderte der Jäger. „Jagen ist das Einzige, was ich gelernt habe. Wenn ich nicht mehr jagen kann, verdiene ich mir mein Brot nicht mehr und muss elendiglich verhungern."
„Das wäre eine gerechte Strafe", sagte die Stimme.
„Wie kann ich dich besänftigen?", fragte der Jäger. Er sah sich um und erblickte am Rande der Lichtung einen Rosenstrauch, der noch eine letzte Blüte trug. Er pflückte sie und hielt sie über sein Haupt. „Hier, diese Rose bittet für mich um Verzeihung", sagte er.
„Was soll ich mit einer Rose?", fragte die Stimme.
Eine zweite Stimme erklang, tiefer, als sei das Silber ein wenig matter. „Jäger, ich bin der Mond", sagte die Stimme. „Ich beschien damals das Reh, das du erlegtest. Auch ich habe durch deine Schuld einen Freund verloren, doch ich verzeihe dir. Ich verstehe, dass du nicht anders handeln konntest. Doch bedenke, jetzt kennen wir dich und du wirst nie wieder unbehelligt jagen können. Du wirst dir ohnehin eine andere Arbeit suchen müssen. Besänftige den Stern, indem du dich blenden lässt, und ich verspreche, dass du nicht sterben musst, denn du trägst den Mantel des Sternliebsten."
Da merkte der Jäger, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Er wog in seinen Gedanken noch einmal das Für und Wider, aber er ahnte, dass der Mond ihm helfen würde. Und da er keinen anderen Ausweg sah, hob er den Blick zu dem Gefährten des Mondes, dem Stern. Ein Blitzstrahl aus silbernem Licht traf seine Augen, doch anstatt geblendet zu werden, spürte der Jäger, wie sich seine Glieder streckten, seine Finger und Zehen zu Hufen formten und aus seiner Stirn zwei Geweihstangen sprossen. Der Mantel aus der Haut des Rehbocks schloss sich eng um ihn. Er spannte die Muskeln und sprang in das Unterholz, denn er wusste, dass bald ein Jäger kommen würde auf der Suche nach einem fetten Braten für die Tafel des Königs.
© Cathrin Block