„Das arme Mädchen!" Aphrodite hatte das Fernrohr hinunter auf die Wellen des Meeres gerichtet. „Wie kann der alte Bock nur. Guck mal, Pidi, er tut es schon wieder. Hera wird toben, wenn sie das mitkriegt, das weiß ich genau."
Cupido sprang sofort hoch, um auch einen Blick von der Welt dort unten zu erhaschen, er sprang und sprang, doch die Brüstung war einfach zu hoch für seine kurzen, dicken Beine. Voller Wut trat er gegen den Stein, was jedoch nur dazu führte, dass er aufheulte und sich den großen Zeh halten musste. Er streckte seine Ärmchen aus. „Heb mich hoch, Mama, heb mich hoch."
Bereitwillig setzte sie ihn auf das Sims. „Sei aber vorsichtig, hörst du?" Zur Sicherheit schlang sie den Arm um seine Taille.
Hinter der Brüstung fiel der Berg steil ab in die Tiefe. Wolken segelten unter ihnen an den Flanken entlang, doch Aphrodite liebte die Fernsicht von hier oben und sie konnte verstehen, dass Pidi auch etwas davon haben wollte. Das Meer da unten glitzerte golden in der Sonne und die vielen kleinen und großen Inseln sprenkelten es wie Rosinen einen Kuchen. Aphrodite genoss es, mit dem Fernglas mal diese, mal jene Insel zu beobachten, die jungen Leute, wenn sie den ersten Kuss tauschten, die alten Paare, die Hand in Hand auf der Bank vor der Tür saßen, die Frauen, die ihre Männer sehnsüchtig erwarteten, wenn sie vom Fischfang heimkehrten.
Ihrem Cousin jedoch mochte sie nicht dabei zusehen, wenn er wieder mal mit einem Mädchen herumturtelte. Dazu wusste sie viel zu genau, wie es sich anfühlte, wenn man betrogen wurde. Sie bewunderte Heras Haltung, wie sie dem alten Bock immer wieder verzieh. Obwohl der es natürlich ganz anders darstellte. Männer, also ehrlich. Benahmen sich, als hätten sie nie etwas von Ehre gehört. Und wenn man dann sauer reagierte, wurden sie auch noch fies. Der Chef machte da keine Ausnahme. Hera hatte schon einiges schlucken müssen. Und trotzdem hielt sie immer noch zu ihm.
Kurz überlegte Aphrodite, ob sie der Cousine von den neuen Eskapaden ihres Göttergatten berichten sollte, entschied sich jedoch dagegen. Heute früh war Hera so fröhlich gewesen und Aphrodite wollte ihr einfach nicht den Tag verderben. Irgendwann würde die Arme es schon herausfinden, aber bis dahin sollte sie die Zeit genießen.
Etwas rauschte von unten herauf, dann hielt Hermes grinsend vor Mutter und Sohn in der Luft an. Die Flügel an seinem Helm, seinen Schultern und seinen Schuhen schwirrten so heftig, dass man sie nur als grauen Schatten wahrnahm. „Na, Aphrodite, Herzchen, spionierst du schon wieder? Und wann willst du deinem Sprössling endlich das Fliegen beibringen? Wie soll er den Leuten denn seine Pfeile in den Hintern schießen, wenn du dich ständig an ihn klammerst, als sei er noch ein Baby."
„Ja, Mama, ich will fliegen lernen." Pidi zappelte in ihrem Arm und schlug mit seinen kleinen Flügelchen.
„Sei still, mein Schatz." Aphrodite drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel.
Hermes ließ sich von seinem Flügelgeschwirr über die Brüstung tragen. „Hast du gesehen, wie genial der Alte diesmal ist? Ein Stier, ein so wunderschöner. Die Verkleidung ist einfach fantastisch. Das musst selbst du doch anerkennen."
„Ich hab's gesehen", sagte Aphrodite trocken und hob Pidi von der Brüstung. „Und auch, dass du ihm geholfen hast. Schämst du dich eigentlich gar nicht?"
„Warum sollte ich mich schämen?"
„Vielleicht, wie ihr beide schon wieder Hera hintergeht?"
Hermes machte eine wegwerfende Handbewegung. „Diese alte Beißzange von Weib keift doch immer herum, ganz egal, was mein Vater tut. Aber das mit dieser phönizischen Königstochter kriegt sie bestimmt nicht raus, so geschickt, wie er es diesmal anstellt." Hermes runzelte die Stirn und sah Aphrodite an. „Es sei denn, du willst es ihr stecken und meinem Vater den ganzen Spaß verderben."
Aphrodite verdrehte die Augen. Na klar, Spaß war das Einzige, an das die beiden dachten. Männer! „Ich sollte es, jawohl", sagte sie unwirsch.
Hermes grinste. „Aber du wirst es nicht tun, oder? Immerhin ist da unten Liebe im Spiel, habe ich Recht?"
„O bitte, Mama, kann ich nicht endlich fliegen lernen?", quengelte Cupido und zuppelte an Aphrodites Rock.
Sie schob ihn beiseite. „Pidi, sei still."
Doch Hermes packte den Kleinen unter den Achseln und schwenkte ihn auf und ab, bis der Kleine juchzte. „Fliegen, ja, fliegen!", schrie er. Seine Flügelchen flatterten und plötzlich schwebte er ganz von allein an die Decke des Aussichtsganges. „Ich kann fliegen, Mama, sieh nur, ich kann fliegen."
Na toll. Aphrodite wusste wieder einmal nicht, ob sie sich über Hermes ärgern oder für Cupido freuen sollte. Wie immer, wenn sie überfordert war, beschloss sie, so zu tun, als wäre nichts. Anstatt sich aufzuregen, fragte sie Hermes. „Wie war das denn mit dem Stier? Hat er ihn allein erschaffen oder brauchte er deine Hilfe?"
Hermes schnaubte. „Der Stier war natürlich sein Werk. Wieso glaubst du, er bräuchte dabei Hilfe? Er ist Zeus, schon vergessen? Ich habe nur die Kühe zu den Mädchen an den Strand getrieben, damit der Stier einen Grund hatte, auch dort aufzutauchen."
„Und wieso ein Stier und kein Delphin oder Wal? Immerhin schwimmt er mit der Kleinen über das Meer."
„Keine Ahnung. Vielleicht lässt er dem Stier im Wasser Flossen wachsen. Sei sicher, er weiß schon, was er tut."
„Komm da runter, Pidi", sagte Aphrodite streng. Ihr Ton änderte sich auch nicht, als sie Hermes fragte: „Und? Habt ihr euch eigentlich gefragt, wie es dem Mädchen bei dieser ganzen Aktion geht? Ich meine, sie wird einfach so mir nichts, dir nichts von einem Stier entführt. Der mit ihr dann über das Meer schwimmt. Habt ihr beiden Helden eigentlich daran gedacht, wie viel Angst die Arme haben muss? Hat Zeus vor, sie zu vergewaltigen oder will er ihre Liebe gewinnen?"
Diesmal sah Hermes tatsächlich verlegen aus. „Deshalb bin ich ja hier. Ich soll dich und Cupido runter zu der Insel bringen. Vater meint, es wäre Zeit für Pidis ersten Pfeil."
„Ach ja?" Aphrodite stemmte die Hände in die Seiten. „Und du meinst wirklich, ich helfe euch noch bei diesem Quatsch?"
Doch Hermes zuckte nur mit den Schultern und grinste sie an.
Tatsächlich hatte Aphrodite keine Wahl. Leider. Ein Befehl von Zeus war nun einmal ein Befehl. Jetzt standen sie und Pidi hinter einem Gebüsch und beobachteten den Chef, wie unbeholfen er sich anstellte, das arme Mädchen herumzukriegen. Den Stier hatte er abgestreift und sich in einen jungen Mann verwandelt. Trotzdem wollte das arme Kind nichts weiter als nach Hause. Sie flehte, sie jammerte, doch Zeus war das egal. Schließlich musste Cupido tatsächlich seinen Bogen spannen und seinen ersten Pfeil abschießen. Erst danach wurde das Mädchen ruhiger und gab sich dem jungen Mann hin.
Doch ausgerechnet in dem Augenblick, als Zeus und das Mädchen unter einem Baum nackt und Arm in Arm in einen kurzen, wohligen Schlummer gefallen waren, flatterte ein Pfau aus dem Wipfel zu Boden.
Ach du Schreck!
Aphrodite duckte sich tiefer hinter den Busch. Hermes war natürlich längst verschwunden. Sie spähte durch das Laub. Was sollte sie jetzt tun? Wenn Hera sie hier entdeckte, würde der Olymp beben, sobald sie zurück waren. Dann half es nicht zu sagen, dass sie nur auf Befehl gehandelt hatte. Sie zog Cupido ganz fest an sich und hielt ihm den Mund zu, damit auch er sie nicht verriet.
Der Pfau verwandelte sich tatsächlich in die wutschnaubende Hera. Zeus hatte keine Chance. Hätte er nicht geschlafen, hätte er sich zum Beispiel in einen Adler verwandeln können oder in ein schnelles Ross. So aber packte Hera ihn und schleppte ihn mit sich, ehe er den Schlaf noch ganz aus den Augen gezwinkert hatte. Es dauerte kaum länger, als man bis hundert zählen konnte, ehe die beiden wieder verschwunden waren.
Aphrodite hockte hinter dem Busch und schloss vor Erleichterung die Augen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn Hera sie entdeckt hätte.
Doch dann kam von der anderen Seite des Busches ein langer Schluchzer. Aphrodite spähte wieder durch das Laub.
Das Mädchen hockte da, die Arme um sich geschlagen. „Wo bist du?", heulte sie. „Komm zurück." Und auch: „Ich will nach Hause."
Aphrodite wusste, sie sollte etwas tun, doch was? Sollte sie sich zeigen und die arme Kleine trösten? Sollte sie sie zurück nach Phönizien bringen? Sollte sie ihr Versprechungen machen, die Zeus am Ende nicht einhalten würde? Wieder konnte sie sich nicht entscheiden, was das Beste war. Also blieb sie, wie immer in solchen Fällen, wo sie war, den Arm um Cupido geschlungen, und schaute tatenlos zu, wie das Mädchen seine Tränen vergoss.
Irgendwann erhob sich die arme Kleine und taumelte auf die Klippen zu, an deren Fuß das Meer schäumte.
„Verdammt Dita, willst du zulassen, dass sie sich da hinunterstürzt?"
Aphrodite fuhr bei dem Klang der Stimme zusammen. Sie hatte sich so sehr den Kopf zerbrochen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, dass Apollon hinter sie getreten war. Er schob sie hinaus auf den Weg. Cupido flatterte hinter ihr her. „Tu etwas", zischte er. „Versprich ihr etwas. Sag ihr, dass ihre Kinder Kreta beherrschen werden, irgendwas, das sie beruhigt."
Aphrodite holte tief Luft. Ja wirklich, sie musste endlich etwas tun. Man konnte doch nicht zulassen, dass das arme Kind von den geilen Böcken im Olymp so herumgeschubst wurde. Am liebsten hätte sie sie ja wieder nach Hause verfrachtet, aber wer wusste schon, wie Zeus das aufnehmen würde? Sie musste der armen Kleinen den Lebensmut zurückgeben, jawohl.
Das Mädchen hatte inzwischen die Klippenspitze erreicht und sah hinab in die Tiefe.
„Tu etwas", zischte Apollon hinter dem Busch. Cupido zog Kreise über Aphrodites Kopf.
Sie holte tief Luft." „Mädchen?", sagte sie.
Die Kleine fuhr herum. Dann wurden ihre Augen groß und sie sank auf die Knie.
Aphrodite musste lachen. Es sah zu komisch aus, wie dieses nackte Mädchen sie mit offenem Mund anstarrte.
„Versprich es ihr endlich", zischte Apollon. „Sag ihr endlich, dass sie das Kind von Zeus empfangen hat. Sag ihr, dass sie und das Kind über diese Insel herrschen werden."
Apollon und seine Prophezeiungen! Doch es war wirklich besser, wenn das Mädchen wusste, was das die Moiren für sie bereithielten. Die Zukunftsaussichten waren nicht schlecht und die junge Frau musste einfach von dieser Klippe herunter, andernfalls würde Zeus sonst was mit Aphrodite machen. Aphrodite holte tief Luft. „Du wirst herrschen, Mädchen", sagte sie.
Die junge Frau sah sie aus großen Augen an.
Aphrodite biss die Zähne zusammen. Dass diese Menschen niemals sofort glaubten, was man ihnen sagte. Eigentlich sollten sie auf der Stelle aufspringen und vor Freude tanzen, wenn ihnen ein gutes Schicksal verkündet wurde. „Du und der Sohn, den du gerade empfangen hast, ihr werdet über diese Insel herrschen, solange ihr lebt", legte sie also geduldig nach. „Wisse, er ist der Sohn von Zeus, dem du dich gerade hingegeben hast."
Das Mädchen reagierte immer noch nicht. Beim Hades noch mal.
„Also schön." Aphrodite fragte sich einen Augenblick, ob sie jetzt nicht zuweit ging. Doch dann fuhr sie fort: „Und dein Name wird leuchten über allen Ländern dieses Erdteils."
„Was?" murmelte Apollon hinter dem Busch. „Das war so nicht bestimmt."
Aber diesmal gab es einen Erfolg. „Wie meint Ihr das", fragte das Mädchen.
„Na ja." Aphrodite wusste, wie weit sie sich vorgewagt hatte. Aber es gab kein Zurück mehr. „Dieser Erdteil soll deinen Namen tragen."
Das Mädchen stand auf und machte einen Schritt auf Aphrodite zu. „Ist das wahr", fragte es atemlos.
So weit, so gut. Aphrodite wich einen Schritt zurück. Cupido folgte ihr – und ebenso die junge Frau.
„Ich habe so einen Traum gehabt", sprudelte es aus dem Mädchen heraus, „einen ganz seltsamen Traum. Ihr sagt, ich werde diesem Erdteil meinen Namen geben? Sind wir denn hier nicht mehr in Asien?"
Apollon hinter seinem Busch raunte etwas wie „Bist du jetzt völlig verrückt geworden?"
Doch Aphrodite beschloss, nicht mehr zu verstehen, was er von sich gab. Immerhin hatte sie Erfolg mit ihrer Taktik. Sie lächelte das Mädchen an und setzte weiter rückwärts Fuß hinter Fuß. „Nein, dies ist Kreta, diese Insel gehört nicht mehr zu Asien", sagte sie. „Und wie gesagt, du und dein Sohn werdet hier herrschen. Außerdem wird der ganze Erdteil deinen Namen tragen, versprochen." Dann runzelte sie die Stirn. „Wie heißt du eigentlich?"
© Cathrin Block